Als gebürtige Russin, die die Invasion Putins in der Ukraine aufs Schärfste verurteilt, sitze ich momentan gewissermaßen 'zwischen den Stühlen'. Denn, auch wenn ich mit Russland selbst wenig zutun habe und sogar sehr früh den russischen Traditionen und Ähnlichem entsagt habe (nicht bloß in Bezug auf Russland - ich bin generell kein traditionsbewusster Mensch) und 'bloß' die russische Sprache spreche (momentan ist es jedoch mit einem unangenehmen Gefühl verbunden), so stehen doch viele meiner Verwandten, vor allem meine Eltern, noch in einem starken Bezug zu Russland und zu der russischen Regierung.
Seit der russischen Invasion in der Ukraine haben meine Eltern und ich uns nicht gesehen bzw. in diesem Jahr noch gar nicht, weil sie zuvor an Corona erkrankt waren. Wir haben uns jedoch geschrieben. Wir haben es bisher erfolgreich geschafft dem Thema Krieg aus dem Weg zu gehen - doch wie lange noch? Ich fühle mich zunehmend schlechter dieses Thema auszuklammern, denn ich fühle mich eigentlich dazu verpflichtet dieses enorm wichtige Thema anzusprechen. Doch die Konsequenzen machen mir sehr große Sorgen und bringen viel Ungewissheit für das familiäre Weiterbestehen.
In der Vergangenheit habe ich mich mehrmals mit meinen Eltern in den Haaren gehabt, weil ich Putin wiederholt kritisiert habe - und zwar vergleichsweise wegen viel harmloseren Aussagen oder Handlungen. Meine Eltern jedoch hielten stets zu ihm bzw. zur russischen Regierung und warfen mir sogar vor, ich wäre durch "westliche Propaganda geblendet". Dabei muss ich wohl erwähnen, dass ich einen Bachelor Abschluss in Slavischer Philologie habe, wo Russische Kultur und Geschichte ein wichtiger Bestandteil des Studiums waren. Laut meinen Eltern wurde mir jedoch in den ganzen Jahren des Studiums an der RUB nur "westliche Propaganda" beigebracht. Irgendwie traurig, dass zum Einen meine Leistungen von meinen Eltern kein bisschen anerkannt werden, ja sogar denunziert werden, und zum Anderen, dass sie tatsächlich glauben, sie hätten in ihrer Zeit des Aufwachsens in der Sowjetunion eine objektivere Sicht auf die Geschichte und die damit verbundenen Prozesse und Handlungen gehabt als ich, die die ganze Aufarbeitung dieser geschichtlichen Phase gelernt hat - im Gegenteil zu meinen Eltern. Sie wissen bis heute nicht, und wollen auch nicht wissen, wie Stalin Millionen Menschen im eigenen Volk ermorden und verschleppen ließ. Dabei ist Putin alias Stalin 2.0 bereits seit 20 Jahren an der Macht und benutzt nun sogar die gleichen Begriffe, wie den der "Säuberung".
Ich lasse schon all die emojis weg, die in der Kommunikation mit meiner Mutter normalerweise zum Standard Repertoire gehören. Sie dagegen schickt mehr als sonst. Ich bin auch sehr spärlich mit meinen Antworten, antworte seltener und kürzer. Es fällt mir schwer den Kontakt ganz abzubrechen, denn immerhin ist sie meine Mutter und hat mich aufgezogen. Sie hat eine Tochter bereits verloren und es bricht mir das Herz mir vorzustellen, wie es für sie wäre, ihre zweite und nun einzige Tochter zu verlieren. Ich bin ja selbst Mutter zweier Töchter und teile die emotionale Ebene in Bezug auf Kinder. Andererseits geht es bei diesem Krieg um die Werte, um meine Werte, die ich auch meinen Kindern vermitteln möchte. Werte wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit. Putin tritt seit Jahren all diese Werte mit Füßen und verkauft sie dann als eine Art westliche Abfälle. Will ich also mit jemanden etwas zutun haben, der/die so denkt? Wären meine Eltern nicht meine Eltern, sondern Bekannte oder 'bloß' Tante/Onkel, würde ich absolut kein Problem damit haben, den Kontakt komplett abzubrechen. Doch weil es meine Eltern sind, fällt mir diese Entscheidung enorm schwer.
Meine Eltern wissen ganz genau auf welcher Seite ich stehe. Wenn sie es nicht tun, haben wir wohl ein ganz anderes Problem, da sie mich dann wohl überhaupt nicht kennen oder mir nie richtig zugehört haben. Aber angenommen sie haben mir tatsächlich zugehört als es um die Gleichberechtigung von Schwulen und Lesben in Russland und insgesamt um Homosexualität ging, oder als wir über die Propaganda Maschinerie Russlands oder den manipulativen Charakter Putins, oder die m.E. begründete Sorge der baltischen Länder vor Russland oder über den Georgienkrieg sprachen - ich auf der Einen, meine Eltern auf der Gegenseite. Wenn sie mir zugehört haben, müssten sie zwangsläufig wissen, wie ich in der momentanen Situation denke. Denn aus all den Diskussionen der Vergangenheit bin ich mir zu 99% sicher, dass meine Eltern momentan die russische Propaganda der "Sondermilitär Operation zur Entmilitarisierung und Entnazifizierung" glauben und somit auf der Gegenseite zu meinen Werten und Vorstellungen stehen.
Sie wissen, wo ich stehe, ich weiß, wo sie stehen, und niemand spricht darüber. Denn ich weiß auch, wenn wir darüber reden, wird es höchstwahrscheinlich eskalieren. Und die Konsequenz dieser Eskalation wird wohl der Bruch sein.
Bereits jetzt, wo wir noch gar nicht darüber gesprochen haben, kann ich mir schon nicht vorstellen, meine Töchtern je wieder unbeaufsichtigt bei meinen Eltern zu lassen, wo Berieselung durch russische Propaganda Sender an der Tagesordnung ist. Ich habe zu meinen Eltern generell über die letzten Jahre viel Vertrauen verloren, denn sie nehmen mich als Erwachsene und als Mutter nicht für voll. Spätestens als sie meinen Töchtern Wurst auf den Tisch stellten und meinten es wäre ja kein Fleisch, obwohl ich ihnen zuvor mehrfach verdeutlicht hatte, wie wichtig es mir ist, dass meine Kinder selbst entscheiden lernen, ob sie tote Tiere essen oder nicht. Und als ich sie darauf ansprach, nachdem meine ältere Tochter sich sehr schlecht gefühlt hatte Fleisch gegessen zu haben, weil sie selbst da mehr Wert legt als ich es tue und ich sie zu beruhigen versuchte, indem ich ihr zusicherte, dass ich dafür sorgen würde, dass sie nie wieder angelogen wird und es nicht so 'schlimm' wäre, wenn sie mal 'versehentlich' Fleisch isst, war die erste Reaktion meiner Eltern, abfällig zu lachen - so nach dem Motto "Ach, jetzt hast du uns erwischt, du, mit deiner lächerlichen Vorstellung von Vegetarismus". Ich will gar nicht erst andere Fässer öffnen, nur vielleicht ein kurzer Verweis, dass sie mir jahrelang versucht haben Zwiebeln unter zu mogeln, obwohl ich mich stets von Zwiebeln übergeben hatte, und gleichzeitig jedes Mal behaupteten, es wären gar keine drin... Will ich, dass es bei meinen Kindern so weiter geht?- definitiv NEIN!
Wie kann ich nach solchen Erfahrungen also tatsächlich glauben, dass meinen Eltern nun ich und die Kinder wichtiger wären als irgendein Disput eines Landes, mit dem sie de facto nix mehr zutun haben, das sie jedoch als ihre 'Heimat' sehen? Und das, obwohl meine Mutter stets darauf pocht, nicht "Russin", sondern "Spätaussiedlerin" genannt zu werden. Tja, ihre Generation hat aus meiner Sicht große Probleme, was Selbstidentifikation angeht - aber das ist ein Thema für einen anderen Artikel...
Mir stellt sich außerdem die Frage: Ist es nicht meine Pflicht als Mutter, Philosophin, Mensch andere, erst recht mir nahe stehenden Menschen, aufzuklären, wo Ungerechtigkeiten geschehen?
Ich war ja schon mega froh, dass meine Eltern wenigstens Corona ernst genommen hatten, und nicht wie meine Tanten/andere Verwandten in die Verschwörungsblase abrutschten. Dieser Umstand war womöglich einzig der Tatsache geschuldet, dass meine Mutter Krankenschwester ist und dort täglich genug Corona Patienten zu behandeln hatte. Aber beim Thema Putin darf ich mir wohl nicht viel Hoffnung machen.
Doch was mache ich? Weiter schweigen und eine 'gute Miene zum bösen Spiel' machen? Oder riskiere ich es einfach und sage, auf welcher Seite ich stehe und lasse die Konsequenzen zu? Ich bin noch nicht wirklich entschieden...
Meine Eltern schrieben in den vergangenen Tagen schon mehrmals, dass sie uns vermissen würden und wann sie zu Besuch kommen dürften. Ich antwortete bisher nicht darauf. Ich nannte weder ein Datum noch schrieb ich, dass ich sie vermisse. Denn das tu ich momentan tatsächlich nicht. Ich habe eher Angst, Angst davor mental keine Eltern mehr zu haben, nachdem sie hier zu Besuch waren. Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass ein Besuch folgenlos ablaufen würde. Es braucht nur ein Stichwort wie Krieg, Bundeswehr, Europa, Kinder, Sprache usw. und schon sind wir mittendrin. Ich denke, meine Eltern machen sich da drüber wohl auch Gedanken, sind aber tatsächlich so naiv zu glauben, dass wir irgendwie 'drum rum' reden könnten. Vielleicht tu ich ihnen damit aber auch Unrecht und sie haben ähnliche Sorgen wie ich.
Meine Taktik ist momentan eine Art Notlösung. Einfach aussitzen, bis der Ukraine Krieg vorbei ist bzw. in der Hoffnung, dass Putin endlich gestürzt wird oder seine Propaganda nicht mehr zieht. Aber auch das Alles ist irgendwie naiv meinerseits.....Zumindest hilft es ein wenig darüber zu schreiben als es seit Wochen im Kopf mitzutragen....